Die freie Wirtschaft

Wer fordert eigentlich Studiengebühren?

„Ist es nicht ungerecht, daß ein Kfz-Mechaniker einem Rechtsanwalt das Studium bezahlt? Und das, obwohl der Rechtsanwalt später im Berufsleben von seiner Ausbildung finanziell profitiert? Genau wie Ärzte, Ingenieure, Manager und, und, und? Ihr Einkommensvorteil wird von allen Steuerzahlern, mit und ohne Studium, finanziert. Diese Ungerechtigkeit kann durch Studiengebühren und sozial ausgewogene Bildungskredite beseitigt werden"
Bildunterschrift der Anzeige „Studienkosten belasten die Falschen“ der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft

„Was nichts kostet, ist auch nichts wert. Nur wenn für das Studium Geld verlangt wird, erwarten die Studenten auch Qualität. Durch solch einen Marktmechanismus können Sie unser Hochschulsystem einschneidend verbessern.“
Jürgen Kluge (Deutschland-Chef der Unternehmensberatung McKinsey), SPIEGEL special Nr. 1/2005, S. 80

Beuten Studierende Kfz-Mechaniker aus?
Kurz vor Verkündung des Bundesverfassungsgerichtsurteils lancierte die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) ihre Kampagne zur Einforderung von Studiengebühren. Zu sehen war ein Jura-Student, der auf dem Rücken eines Kfz-Mechanikers an einem Schreibtisch sitzt. Kolportiert wird damit das weitverbreitete Bild, das Studium der ‚Elite‘ würde von Putzfrau und Krankenschwester finanziert. Diese Ungerechtigkeit könne nun durch die Einführung von Studiengebühren aufgehoben werden. In dem ungerechtesten Bildungssystems Europas, in dem nur ca. 8% der Kinder aus Arbeiterfamilien ein Studium aufnehmen, sollen zukünftig – ginge es nach der INSM – Mittel- und Oberschicht für ihre finanziellen Vorteile zahlen und Arbeiterfamilien weiterhin benachteiligt sein. Aber wer sind diejenigen, die sich hier als Retter der sozialen Gerechtigkeit aufspielen?

Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft:
Die INSM ist ein Zusammenschluß aller deutschen Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie. Durch aufwendige Werbekampagnen, Kooperation mit dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft Köln und eine Reihe von ‚Botschaftern' aus Wirtschaft, Politik und Kultur z.B. Unternehmensberater Roland Berger, Gunnar Uldall oder Lothar Späth soll die Alternativlosigkeit der Sozialstaatszerschlagung vermittelt werden. Ausgestattet ist das ganze mit einem Etat von 10 Mio. Euro. Die INSM definiert sich selbst als „überparteiliche Reformbewegung“, die gegen den „Abwärtsstrudel aus hohen Arbeitskosten, unfinanzierbaren Sozialsystemen und dauerhafter Wachstumsschwäche“ eintritt. Auslöser war 1999 eine Umfrage des Allensbach- Instituts im Auftrag der Arbeitgeber, die zeigte, daß zwei Drittel der Deutschen den von den Unternehmen geforderten Rückbau des Sozialstaats „skeptisch“ sahen oder sogar "bedrohlich" fanden. Darauf gründeten die Metall-Verbände das Umerziehungsprojekt. Eine Studie der Hans- Böckler-Stiftung zur INSM geht davon aus, daß die Aktivitäten der INSM in den letzten Jahren massiv dazu beigetragen haben, Einstellungen in der Bevölkerung zu verändern und Themen wie Rückbau des Wohlfahrtstaates, Arbeitszeiten, verstärkte Eigenverantwortung, staatliche Ausgaben und Aufgabenbeschränkung in die Diskussion zu bringen[1]. Die INSM, die in der o.g. Kampagne so tut, als sei ihr die soziale Gerechtigkeit ein Anliegen, versucht lohnabhängig Beschäftigte gegen Studierende auszuspielen. Dabei soll das eigentliche Interesse – Sozialstaatsabbau in allen Bereichen bei wachsenden Profiten – verschleiert werden.

Dies wird auch deutlich, wenn man sich die weiteren langjährigen Befürworter von Studiengebühren ansieht: Das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), ein neoliberaler ‚think tank‘ der Bertelsmann Stiftung unter Einbeziehung der Hochschulrektorenkonferenz, welches seit langem ein aggressiver Einforderer von Gebühren ist und bereits 1998 durch manipulative Umfragen den Eindruck zu erwecken versuchte, die Mehrheit der Studierenden sei für Studiengebühren[2]. Der Bundesverband der Deutschen Industrie, der bereits 1990 die Einführung von Bildungsgutscheinen forderte, damit der Student zum Kunden würde und eine stärkere Arbeitsmarktorientierung in den Hochschulen Einzug erhielte[3]. Ebenso wie der Deutsche Industrie- und Handelskammertag forderte die Hamburger Handelskammer 1999 Studiengebühren als zentralen Hebel zum Umbau der Hochschulen vom Humboldtschen zum Marktmodell[4]. Hier reiht sich auch die Unternehmensberatung McKinsey[5] ein, die 2002 die „Dohnanyi-Kommission“ leitete und an zentraler Stelle Vorschläge zur Entdemokratisierung und Zerschlagung der Hamburger Hochschulen erarbeitete, die Dräger als Vorlage für seine Politik dienten.

Was auch immer vordergründig an Argumenten für die Notwendigkeit von Studiengebühren diskutiert wird – die Unterfinanzierung der Hochschulen, die Ungerechtigkeit des gebührenfreien Studiums, etc – den Wirtschaftsvertretern geht es um etwas anderes: die radikale Umstrukturierung des deutschen Hochschulsystems und Ausrichtung an Marktmechanismen. (siehe Text „Angst oder Entwicklungsfreude“) Diese ‚Reformen' betreffen allerdings nicht nur die Hochschulen, sondern stehen in einem größeren Kontext…

Öffentliche Armut im privaten Reichtum
„Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen.
Ihr sollt auf euern Direktor vertrauen.
Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen.
Ihr sollt alles Weitere dem Chef überlassen.
Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein,
wir wollen freie Wirtschaftler sein!
Fort, die Gruppen - sei unser Panier!
Na, ihr nicht. Aber wir.

Ihr braucht keine Heime für eure Lungen,
keine Renten und keine Versicherungen,
Ihr solltet euch allesamt was schämen,
von dem armen Staat noch Geld zu nehmen!
Ihr sollt nicht mehr zusammenstehn
- wollt ihr wohl auseinandergehn!
Keine Kartelle in unserm Revier!
Ihr nicht. Aber wir.

Wir bilden bis in die weiteste Ferne
Trusts, Kartelle, Verbände, Konzerne.
Wir stehen neben den Hochofenflammen
in Interessengemeinschaften fest zusammen.
Wir diktieren die Preise und die Verträge
– kein Schutzgesetz sei uns im Wege.
Gut organisiert sitzen wir hier...
Ihr nicht. Aber wir.“

Kurt Tucholsky: Die freie Wirtschaft, 1930

Tarifabbau, Privatisierung des Gesundheitswesens (Praxisgebühr, Verkauf von Krankenhäusern), Rentenkürzungen und Arbeitslosigkeit auf dem Niveau der späten Weimarer Republik. Armut auf der einen Seite und Reichtum auf der anderen wachsen stetig, die gesellschaftlichen Widersprüche spitzen sich immer mehr zu. Die ‚freie Marktwirtschaft' steckt in der Krise. Als Lösung dieser Probleme schlägt nun eine ‚große Koalition' - ausgehend von den Arbeitgeberverbänden bis zu Teilen von SPD und Gewerkschaften - eine weitere Lohndrückung, längere Arbeitszeiten, Ausbau des Niedriglohnsektors (bis zum Arbeitszwang) und ‚Eigenverantwortung' statt Sozialstaat vor. Der Markt soll noch freier werden, man könnte auch sagen: der Kapitalismus soll weniger reguliert sein. Daß dies zu mehr Wohlstand für alle führt, ist allerdings ein Ammenmärchen, das man schon zu Tucholskys Zeiten nicht glauben mußte. Der von der Deutschen Bank gescheffelte Rekordgewinn von 2,5 Mrd. Euro (nach Steuerabgaben) veranlaßte diese nicht dazu, neue Arbeitsplätzen zu schaffen, sondern den Abbau von 6400 Stellen zu verkünden. Trotz der Tatsache, daß die deutsche Wirtschaft Exportweltmeister ist, fordern Großunternehmen, die Senkung der Unternehmenssteuer, um die Wirtschaft zu entlasten. Wie gut muß es nach dieser Logik den Unternehmen gehen, damit Arbeitsplätze geschaffen und Arbeitsbedingungen verbessert werden können? Die Antwort darauf gibt der Unternehmenssprecher von Wincor Nixdorf. Das Unternehmen plant die Wiedereinführung der 40-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich und versucht dabei die IGMetall von den Verhandlungen fernzuhalten. Kommentar ihres Sprechers: „Wir machen das bewußt in einer Phase, in der es uns gutgeht.“ (DPA, 18.11.2004)[6]

So steigen die privaten Vermögen einiger weniger, während die öffentlichen Haushalte schrumpfen bzw. Kapitalgesellschaften und Großverdiener massive Steuererleichterungen erhalten oder gar keine Steuern zahlen[7]. Es geht also um die Durchsetzung von Interessen: entweder die Profitinteressen des Kapitals oder das Interesse der Mehrheit der Menschen, eine soziale und demokratische Gesellschaftsentwicklung zu realisieren.

Kampf für Reformen
Die Lösung der gesellschaftlichen Krise kann nicht die Gleichheit in der Ungleichheit sein, d.h. wenn Kindergartenplätze Gebühren kosten, sollen gefälligst auch die Studierenden bezahlen oder wenn das Kind eines Kfz-Mechanikers kaum Aussichten hat, ein Studium zu beginnen, solle die soziale Ungleichheit durch Studiengebühren auf ewig festgeschrieben werden. In dieser Logik werden unterschiedliche Gruppen früher oder später lohnabhängig Beschäftigter mit dem Hinweis auf vermeintliche Privilegien gegeneinander ausgespielt, während sich das Kapital die Hände reibt. Teile und herrsche!
Dem entgegen ist ein politischer Kurswechsel nötig und möglich. Die wirtschaftliche Produktivität ist so hoch, daß Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich möglich sind. (Irrsinn dagegen bei 5,2 Mio. Arbeitslosen Arbeitszeit und Renteneintrittsalter zu erhöhen) Der gesellschaftliche erarbeitete Reichtum muß für die Perspektive einer Gesellschaft genutzt werden, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, dazu gehören: gebührenfreie Bildung von Kindergarten bis Hochschule, Kultur für alle, gebührenfreie Gesundheitsversorgung und sinnvolle Arbeit für alle.
Die Befürwortung von Reformen oder Gegenreformen sind politische Entscheidungen. Reformen, wie z.B. in den 70er Jahren, lassen sich nur erreichen, wenn es dafür gesellschaftliche Bewegung gibt. Studiengebühren zu verhindern ist Bestandteil einer grundsätzlichen Richtungsänderung. Dafür müssen die Studierenden gemeinsam mit Gewerkschaften, Schülern und sozialen Initiativen kämpfen, so daß wir sagen können: „Gut organisiert stehen wir hier!“…

[1] Dr. Rudolf Speth: Die politischen Strategien der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Hans- Böckler-Stiftung, August 2004, siehe: http://www.boeckler.de/pdf/fof_insm_studie_09_2004.pdf.

[2] Die Umfrage bezog sich auf unterschiedliche Gebührenmodelle und nicht auf die Frage einer grundsätzlichen Ablehung von Gebühren. Genaueres: http://archiv.gutebildung.de/argumente/5.php

[3] Siehe: Bundesverband der Deutschen Industrie, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Hg.): Hochschule 2000. Wirtschaft und Wissenschaft im Dialog, Köln 1990.

[4] „Durch den Übergang von der Objekt- zur Subjektförderung und die Einführung von Kostenbeiträgen werden die Studierenden ihre Ausbildung als Investition in ihre Zukunft, als Investition in ihr Humanvermögen verstehen und sich Gedanken über die Rendite der Investition machen. Sie werden nach der Qualität der Leistungen an den Hamburger Hochschulen fragen. Dieser Rückkoppelungseffekt wird sich positiv auf die Leistungen der Hochschulen auswirken, in dem – und hier schließt sich der Kreis – Druck im Sinne der vorstehend angemahnten Reformschritte erzeugt wird.“ Siehe: Broschüre der Handelskammer Hamburg: Hamburger Hochschulen reformieren. Mehr Freiheit für unternehmerisches Handeln, 1999: http://www.hk24.de/HK24/HK24/produktmarken/standortpolitik/wirtschaftspolitik/standpunktepapiere/s8_hochschulen_reformieren.pdf

[5] McKinsey hatte den Durchbruch in den USA der 30er Jahre als die Unternehmen sie verstärkt gegen sozialreformerische Politik des New Deal und gegen die erstarkenden Gewerkschaften einsetzten. Heute berät McKinsey 147 der 200 größten Unternehmen der Welt, um überall das Prinzip höhere Gewinne bei weniger Personal durchzusetzen. Siehe: Werner Rügemer: Der Mythos der ökonomischen Effizienz. Wie McKinsey, Price Waterhouse Coopers und die globale Beraterbranche den Staat privatisieren. http://www.memo.uni-bremen.de/docs/m7704.pdf

[6] Siehe: Werner Rügemer: Investitionen ohne Arbeitsplätze, in: junge welt, 22./.23.02.2005

[7] Siehe: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum 2004. Beschäftigung, Solidarität und Gerechtigkeit - Reform statt Gegenreform, Köln 2004 oder http://www.memo.uni-bremen.de